02/07/2024 0 Kommentare
Nienstedtener Chöre im Ausnahmezustand
Nienstedtener Chöre im Ausnahmezustand
# Kirchenmusik
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Nienstedtener Chöre im Ausnahmezustand
Der Weg zu neuen Probentechniken 2020
Als wir Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker im März diesen Jahres die Nachricht von unserem Landeskirchenmusikdirektor Hans-Jürgen Wulf erhielten, dass bis auf Weiteres keine Chorproben mehr stattfinden durften, entstand zunächst für alle Beteiligten ein ungewohntes Vakuum. All die Menschen, die selbstverständlich jede Woche zum Singen zusammenkamen, mussten nun auf ihr liebgewordenes Ritual verzichten. Nicht nur das Singen fehlte, auch der ungezwungene und vertraute Umgang untereinander ließ sich nicht ersetzen. Viele Chorproben, der Klönschnack nach der Probe, die beliebte Kinderchorreise nach Kleve, der sommerliche Kantorei-Ausflug und unsere geplanten Aufführungen mussten ausfallen.
Besonders unsere älteren Chormitglieder verließen das Haus fortan nur selten und hofften auf eine baldige Normalität, die nun leider immer noch auf sich warten lässt.
Dass diese außergewöhnliche Situation nicht einfach so vorübergehen würde, wurde immer klarer.
Die traditionelle und bewährte Chorarbeit, die mit ihrer Lebendigkeit und Direktheit nicht zu ersetzen ist, kam an ihre Grenzen und landete hart auf dem Boden der Tatsachen und in der Realität des digitalen Zeitalters.
In einer Krise dieser Art zeigt sich schnell, welche Menschen wir vermissen und welche Themen, Hobbys und Gewohnheiten uns wirklich wichtig sind. Manche Menschen mussten sich neu sortieren, fühlten Unbehagen und erlebten eine ungewohnte Ruhe, die nicht jeder sofort für sich nutzen konnte. Das Singen in der Chorgemeinschaft stand bei vielen Chormitgliedern ganz oben auf der Liste dessen, was vermisst wurde.
In diesem Bewusstsein begann die Suche nach einem Weg, um den wertvollen Schatz des Chorsingens auch während dieses Ausnahmezustands weiterhin am Leben halten zu können.
Ein erster Versuch in diese Richtung war im März das digitale Chorprojekt für alle drei Chöre. Es ermöglichte allen Chormitgliedern, mit Audio-Aufnahmen und den Noten wenigstens in den eigenen vier Wänden etwas singen zu können. Unser geplanter gemeinsamer Auftritt konnte, bedingt durch den Shutdown, aber leider nicht verwirklicht werden.
Wie sehr das Singen im Chor unserer Seele guttut, uns befreit, geistig beweglich und jung erhält, wusste ich und wird mir durch das Feedback der Chormitglieder immer wieder bestätigt. Wie es sich aber gänzlich ohne gemeinsames Singen und Auftritte mit den Chören anfühlt, hatte ich in dieser Form noch nicht erlebt. Es fehlte eines der schönsten Puzzleteile in meinem Leben – und ich war mit dieser Wahrnehmung nicht alleine!
Nun prüfte ich die Anregungen im Internet und las alles über Online-Chorproben, was ich finden konnte. Wir experimentierten dann zunächst im eigenen Haushalt mit Zoom, und ich ergänzte meine Erfahrungen durch ein Seminar zum Thema Online-Chorproben.
Mit neuen Erkenntnissen und der freundlichen Hilfe in meiner Familie baute ich meinen Arbeitsplatz um und konnte dank einer großzügigen Spende aus dem Jahr 2019 fehlendes Equipment anschaffen. Wir bauten eine Vorrichtung aus Natur-Eichenholzbrettern, und platzierten hier einen großen Bildschirm und Boxen. Davor stellten wir mein E-Piano, das Audiointerface und weiteres Equipment, so dass immer alles übersichtlich und griffbereit zur Verfügung steht.
Gut ausgestattet und motiviert startete ich am 11. Mai die erste Online-Chorprobe mit dem Gospelchor. Alle erhielten eine Einladung mit den Zugangsdaten per E-Mail, und ich war gespannt auf unser erstes Wiedersehen und das neue Klangerlebnis!
Freundliche Gesichter nahmen nach und nach auf dem Bildschirm in meinem Arbeitszimmer „Platz“. Manche kämpften anfänglich noch mit technischen Problemen, aber mit etwas Humor und Geduld sangen wir schließlich unsere ersten Töne. Wir fanden uns in einer neuen digitalen musikalischen Umgebung wieder, in der es besser lief, als ich es erwartet hatte. Alle Teilnehmenden waren voller Freude, sich endlich wiedersehen zu können.
Grenzen und Chancen bei Online-Chorproben
Nach unseren Erfahrungen kann eine Online-Probe unterm Strich eine reale Liveprobe nicht vollständig ersetzen. Es bleiben unterschiedliche Wünsche offen, und das ist gut so!
Einer der Hauptnachteile liegt in der übertragungsbedingten Zeitverzögerung (Delay). Folglich werden zum gemeinsamen Singen alle Mikrofone der Chormitglieder ausgeschaltet, und ich als Chorleiterin „höre“ nur, was ich sehe!
Das ist die größte Herausforderung bei einer Online-Chorprobe, und es erfordert ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, um alle Chormitglieder gut in die Probe einzubinden und dabei im Fluss zu bleiben. Eine kreative Zeichensprache und regelmäßige Rücksprache mit allen Teilnehmenden sind hierbei sehr hilfreich.
Auch wenn alle Chormitglieder stummgeschaltet sind, bin ich noch immer zu hören und zu sehen. So kann ich Übungen erklären oder einzelne Stimmen vorsingen, Rhythmen üben sowie musikalische Intentionen erklären. Es bedarf aber einer sorgfältigen Vorbereitung, um alle möglichen Schwierigkeiten in der Online-Probe überwinden zu können.
Einen besonderen Vorteil haben die Online-Proben, wie ich schnell merken konnte: So ruhig, wie eine Zoom-Probe abläuft, finden normale Proben selten statt! Trotzdem dürfen sich Chormitglieder äußern, und wer Fragen hat, kann sich melden und nach Aufforderung reden oder über den Chat seine Frage stellen.
Selbst wenn Noten eingeblendet sind oder andere Funktionen über die „Bildschirm teilen“-Funktion für alle sichtbar gemacht werden, funktionieren diese Mitteilungsvarianten sehr gut.
Als Chorleiterin kann ich relativ unkompliziert auch sogenannte „Breakout-Rooms“ erstellen und Chormitglieder den jeweiligen Räumen zuweisen. So sind auch Stimmgruppen-Proben möglich, und ich kann jeden Raum besuchen und mit den Teilnehmenden dort direkt üben, Fragen beantworten und Arbeitsaufträge verteilen.
Überraschenderweise funktioniert die Stimmbildung über die Online-Proben ziemlich gut.
Jeder kann seine Stimme frei ausprobieren, sich selber gut hören und befindet sich quasi in einer Einzelstimmbildung mit mir als Chorleiterin. Dank meiner Erfahrung kann ich auch hier über die Galerieansicht einigermaßen gut beurteilen, ob die Übungen richtig ausgeführt werden – die Augen einer Chorleiterin sehen und „hören“ oft mehr, als den Chormitgliedern lieb ist.
Mittlerweile probt auch die Kantorei wechselweise online, wofür ich zunächst Testmeetings angeboten habe. Dass hierbei auch ältere Chormitglieder die Motivation aufbringen konnten teilzunehmen, hat mich sehr gefreut! Dennoch sind wir dankbar, dass wir uns in Hamburg inzwischen wieder zu Liveproben in großen, hohen Räumen und im Freien treffen dürfen. Mit einem Abstand von 2,5 m werden wir uns bis auf Weiteres wechselweise in der Kirche und zu Online-Proben treffen können.
Für den Kinderchor ist ebenfalls ein neues Konzept entstanden, das uns hoffentlich gut durch die zweite Jahreshälfte führen wird, egal wie sich die Wochen entwickeln werden. Wechselweise Online-Proben und Liveproben in der Kirche sowie kleine Filmprojekte werden uns in den kommenden Wochen begleiten und auch ein wenig herausfordern.
Große Konzerte mit unseren Chören wird es in diesem Jahr leider nicht geben, aber alle Chöre werden so oft wie möglich mit kleinen Ensembles in den zahlreichen Gottesdiensten auf den drei Emporen mit gebotenem Abstand ihre erarbeiteten Chorstücke singen. Dass sich zudem so selbstverständlich und regelmäßig Chormitglieder am Schola-Singen in den Gottesdiensten beteiligen, freut mich und unsere Pastoren besonders.
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Bei Allem brauchen wir weiterhin nicht nur Kurz- und Weitsicht, sondern auch Vor- und Rücksicht.
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Nun sind wir gespannt auf die kommenden Monate und freuen uns auf das Singen, auf welche Art und Weise auch immer!
Frauke Grübner (Kirchenmusikerin)
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